"Schweizer Parallelwelt". Ein Kommentar von Johannes Ritter aus der FAZ vom 02. August 2024. Empfohlen von Matthias Klein.

Datum des Artikels 05.08.2024

Die Schweiz profitiert stark vom freien Zugang zum EU-Binnenmarkt. Die Hälfte der Exporte geht dort hin. Doch nun steht das Land sich selbst im Weg.

04.08.2024

Vor 25 Jahren begann für die Schweiz eine neue Ära: Sie schloss mit der Europäischen Union sieben bilaterale Verträge ab. Auf dieser Konstruktion beruht bis heute der freie Zugang der Eidgenossenschaft zum für sie wirtschaftlich wichtigen europäischen Binnenmarkt, ohne dass sie EU-Mitglied ist. Kein anderes Land außerhalb der EU und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) genießt ein solches Privileg. Die EU hat der Schweiz, die damals noch Beitrittskandidat war, einst eine Brücke gebaut, obwohl die Schweizer Bevölkerung 1992 den Beitritt zum EWR abgelehnt hatte.

Heute tut sich die Schweiz mit der notwendigen Fortschreibung der bilateralen Verträge für die Zukunft schwer – obwohl und gerade weil es ihr in dieser Parallelwelt im zurückliegenden Vierteljahrhundert sehr gut ergangen ist. So ist das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf seit 1999 um ein Viertel gestiegen, trotz der starken Zuwanderung infolge der vertraglich vereinbarten Personenfreizügigkeit. Dieser Wachstums­effekt verdankt sich maßgeblich dem Wegfallen von Handelshemmnissen; die Hälfte der Schweizer Warenexporte geht in die EU. Für den Wirtschaftsdachverband Economiesuisse ist die freie Teilnahme am europäischen Binnenmarkt daher „ein zentraler Wohlstandsfaktor“ der Schweiz, den es unbedingt abzusichern gelte.

Doch dazu müssen Lücken im bestehenden Vertragswerk geschlossen werden. So bedarf es klarer Regeln für die Übernahme von EU-Recht in den bestehenden Abkommen zum Abbau technischer Handelshemmnisse sowie zu Personenfreizügigkeit, Landwirtschaft, Land- und Luftverkehr. Außerdem fehlt ein Mechanismus zur Streitbeilegung. Der erste Anlauf zu einer Aktualisierung der bilateralen Verträge ist allerdings am Widerstand der Schweizer Regierung gescheitert: Im Mai 2021 brach sie die jahrelangen Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU einseitig ab.

Sorgen um die hohen Schweizer Löhne

Seit März sitzt man nun wieder am Verhandlungstisch. Dort liegen inzwischen vernünftige und faire Lösungen bereit. In Streitfällen soll künftig, wie in völkerrechtlichen Verträgen üblich, ein paritätisch besetztes Schiedsgericht entscheiden. Sofern EU-Binnenmarktrecht berührt ist, muss zuvor die Meinung des Europäischen Gerichtshofs eingeholt werden, denn nur so lässt sich gewährleisten, dass die Schweiz nicht bessergestellt wird als die EU-Mitglieder. Änderungen im EU-Recht, die sich auf die bilateralen Verträge auswirken, soll die Schweiz „dynamisch“ übernehmen. Deren Regierung oder das Volk kann im Einzelfall ein Veto einlegen. Die EU darf dann Ausgleichsmaßnahmen verlangen, und das Schiedsgericht überprüft, ob sie verhältnismäßig sind.

Damit sollte der überfälligen Fortschreibung der bilateralen Verträge nun nichts mehr im Wege stehen – doch weit gefehlt. Die Schweizer Gewerkschaften warnen im Schulterschluss mit den Sozialdemokraten, dass der bestehende bürokratische Schutzwall vor grenzüberschreitenden Einsätzen ausländischer Betriebe Risse bekommen könnte, was die hohen Schweizer Löhne gefährden werde. Diese Sorge ist indes übertrieben: Nicht einmal ein Prozent der Schweizer Arbeitnehmer ist von meldepflichtigen Kurzeinsätzen ausländischer Konkurrenten betroffen.

Nicht nur links, auch rechts hakt es gewaltig: Die wählerstärkste Partei des Landes, die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), lehnt jede Annäherung an die EU ­kategorisch ab und wütet gegen einen angeblichen „Unterwerfungsvertrag“, der die Souveränität des Landes begraben werde. Das ist allerdings ein Denken aus einer anderen Art von Parallelwelt: Die Schweiz gewönne vielmehr an Souveränität, denn die neuen Regeln setzten auch der EU Schranken. Weil Ausgleichsmaßnahmen verhältnismäßig sein müssten, wären überzogene Strafen aus Brüssel im Konfliktfall fortan ­unmöglich. Der Vertrag verspricht damit mehr Rechtssicherheit.

Die SVP hat aber noch anderes ­Geschütz: Sie will den Anstieg der Zuwanderung notfalls durch eine Kündigung des Freizügigkeitsabkommens begrenzen und hat eine Volksinitiative darüber lanciert. Die Ausländerdebatte könnte auch damit zum größten Stolperstein für die Erneuerung des Vertragswerks mit der EU werden. Die Regierung versucht nun, mit der EU eine verbindliche Schutzklausel auszuhandeln. Von einer bestimmten Ausländerquote an sollen die Türen für EU-Bürger geschlossen bleiben. Nachbarländern wie Deutschland und Frankreich, die seit Jahren Fachkräfte an die Schweiz verlieren, könnte das vielleicht sogar gefallen. Aber das hieße, die Büchse der Pandora zu öffnen.